Reihum stürzten sich gestern Journalisten auf eine NZZ-Recherche, die enthüllte, wie eine Bundesangestellte sehr freizügiges Bildmaterial von sich ins Netz gestellt hatte. Aber Menschen haben nun mal ein Sexualleben, und manche teilen es gerne mit der Welt. Im Jahr 2014 sollte das eigentlich keine Geschichte mehr sein. Und es gibt keinen Grund, Menschen deswegen zu brandmarken. Doch im Sommerloch gelten offenbar andere Regeln.
Bis vor Kurzem gab es ein Twitter-Konto mit fast 12 000 Followern, auf dem eine Bundeshaus-Angestellte Fotos teilte, die «ihre primären und sekundären Geschlechtsmerkmale» zeigen, wie die NZZ gewohnt nüchtern notierte. Was nach einer «Blick»-Story klingt, ist auch am Tag nach der Publikation auf nzz.ch die meistgelesene Story: «Freizügige Sekretärin: Nackt-Selfies aus dem Bundeshaus».
Weitere Teile folgen, und die Geschichte nimmt ihren absehbaren Lauf: Im Blick- und im 20-Minuten-Newsroom bricht das Jagdfieber aus und man findet die Original-Bilder, veröffentlicht sie und nennt die Frau fantasielos übereinstimmend «Porno-Sekretärin». Der Link zu einem unverpixelten Foto der Frau geistert alsbald auf Twitter herum und wenig später ist auch das Twitter-Konto bekannt, sowie die Website der Frau. Und dann geht die Story auch schon mit Reuters um die Welt.
Am Ende des Tages ist die Sekretärin per sofort freigestellt und findet sich auf den Seiten 1 bis 3 von «Blick am Abend» und «Blick» wieder. Innert weniger Stunden wird eine Frau um ihre Anstellung gebracht. Sie wird wohl nun dank dem hier entzündeten, aber sonst in so vielen wichtigen Fragen brach liegenden Recherchetrieb der Journalisten, grosse Probleme haben, in näherer Zukunft einen Job zu finden.
Was die NZZ betrifft: SRF-Journalist Lukas Mäder spricht von einem «Steilpass für Persönlichkeitsverletzung». Auf Anfrage sagt René Zeller, stv. Chefredaktor und Leiter der Inlandredaktion: «Die NZZ hat die Identität der fraglichen Person nicht preisgegeben, weil auch Angestellte im Bundeshaus Anrecht auf Persönlichkeitsschutz haben. Deshalb haben wir Anfragen von Medienschaffenden prinzipiell abschlägig beantwortet.» Die Zeitung mag in der journalistischen Praxis nichts falsch gemacht haben, doch einige Leser sehen die Veröffentlichung kritisch (zum Beispiel auf Facebook) oder fragen, ob man sich jetzt «die NZZ in den Blick einrollen» lässt.
Blenden wir zurück zu einem früheren Fall von Nacktbildern, die eine Gemeindeangestellte ins Web gestellt hatte. Der «Blick» machte sie am 30. Juni 2009 publik und verstiess damit gegen die Berufsregeln, wie der Presserat später festhielt:
Der «Blick» hat damit in krasser Weise die Privatsphäre der Frau verletzt. Denn im Internet trat die Frau unter einem Pseudonym auf, und es gab keinerlei Hinweise auf ihre berufliche Tätigkeit und ihren Arbeitsort.
Im aktuellen Fall präsentiert sich die Lage etwas anders: Den Arbeitgeber geht es (auch bei harmlosen Fotos) sehr wohl etwas an, wenn eine Angestellte Nacktbilder in ihren Arbeitsräumen aufnimmt und diese auch noch veröffentlicht. Denn erstens ist sie zum Arbeiten angestellt und zweitens läuft sie Gefahr, mit solchen Bildern den Ruf ihres Arbeitgebers zu verletzen – bei einem Arbeitgeber wie der Bundesverwaltung ist davon auszugehen.
Auch wenn dieser Fall aus arbeitsrechtlichen Gründen mit einer Entlassung enden sollte, so ist es doch ein völlig willkürlicher Treffer, denn es gibt nun wirklich keinen Mangel an Privatpersonen, die im Internet nackt zu sehen sind (und das nicht nur mit einem einmaligen Aktbild). Wer nur lange genug «recherchiert», wird mit einiger Wahrscheinlichkeit den Penis seines Onkels finden oder die Brüste seiner Nachbarin, auf YouPorn zum Beispiel, einer Website, die Menschen dazu auffordert, Sex-Videos von sich einzusenden und dessen Statistiken (wiederum) die NZZ vermeldet hatte. Oder in der Reddit-Rubrik «Gone Wild», wo mehr oder minder erkennbare Frauen aus aller Welt alle paar Minuten neue, zum Teil sehr explizite Bilder hochladen.
Das Internet hat den Umgang mit sexuellen Abbildungen revolutioniert. Während es für diese Frau wohl schon ganz alltäglich war, solche Bilder mit aller Welt zu teilen, prallt sie nun mit voller Wucht auf eine Gesellschaft, die ein solches Verhalten irgendwo zwischen «sonderbar» und «krankhaft» einstuft. Ein «Sexualberater» auf 20min.ch ferndiagnostiziert dann auch schon, man müsse «in Erwägung ziehen, dass es sich um eine exhibitionistisch gefärbte Zwangsstörung handelt». Nun gut, aber mal nüchtern gefragt: Kann eine Frau, die in ihrer Freizeit gerne Amateursexbilder erstellt, denn nicht auch eine gute Bundesangestellte sein?
Das Stigma, das die Frau unter dem Druck der Medien erleidet, ist unfair und pseudomoralisch. Dass sich die Journalisten wie eine geile Meute auf die freizügige Frau stürzen, hat doch wenig bis gar nichts mit moralischen Gründen zu tun – mich würde es im Gegenteil nicht wundern, wenn der eine oder andere Journalist mit Jagdtrieb sich genau solche Bilder zum privaten Vergnügen ansieht. Und was nicht schon alles passiert ist in den geheiligten Redaktionsräumen oder an Weihnachtsfeiern in Printverlagen – die Öffentlichkeit möchte es wohl lieber nicht wissen. Auch wenn ich davon überzeugt bin, dass es einige Journalisten gibt mit einem hochmoralischen Sexualleben: Möchte man sich tatsächlich die Berufsgruppe der Journalisten zum Vorbild nehmen, wenn es um die Frage von Sexualität und Moral geht?
Vor einiger Zeit wurde eine US-Studentin, die als Pornofilm-Darstellerin Geld verdiente, um ihr College zu bezahlen, von einem Mitstudenten geoutet und danach von einer breiten Masse gebrandmarkt. Sie schrieb dazu einen Beitrag, den ich den «Porno-Journalisten» (ich sag jetzt mal so, ja?) gerne zur Lektüre empfehlen möchte. Sie schrieb unter anderem:
You want to see me naked. And then you want to judge me for letting you see me naked.
Du willst mich nackt sehen. Und dann willst Du mich dafür richten, dass ich Dich mich nackt sehen lassen habe.
Vielleicht können wir alle etwas lockerer umgehen mit Sexualität und Nacktheit? Immerhin wurden wir nackt geboren, und ein Sexualtrieb wurde den meisten von uns auch mitgegeben. Wer seinen Körper nicht mit der Welt teilen möchte, ist frei, das zu tun. Könnte nicht jenen, die ihre Körper mit der Welt teilen möchten, auch etwas Freiheit zugestanden werden?
Im ähnlichen Sinne argumentiert auch Sven Zaugg auf Watson.ch: «Auch Bundeshaus-Sekretärinnen haben ein Recht auf Pornos und Privatsphäre»